Donnerstag, 14. März 2013

Nietzsche im Ghetto

Es ist gegen 15 Uhr, der Himmel ist weiß-grau, ein typischer Schneehimmel, und dementsprechend fällt der Schnee auch, in dicken Flocken, zentimeterhoch liegt er schon auf dem Boden, denn seit letzter Nacht schneit es ununterbrochen.

Der Busfahrer mag mich nicht, das merk ich sofort. ich stehe fast neben ihm, nur diese komische Durchgangsschranke trennt uns. Hat das Ding eigentlich einen Namen? Er mustert mich mit einem miesgelaunten Gesichtsausdruck von oben bis unten und schaut abschätzig. Vermutlich, weil er warten musste, als ich im Vollsprint zur Haltestelle gerannt kam, um den Bus noch zu erwischen. Er hätte nicht warten müssen, wäre er nach Fahrplan gefahren und nicht wiedermal zwei Minuten zu früh dran gewesen. Aber pünktliche Fahrzeiten und meine beiden Buslinien hier...das passt nicht zusammen. Und bei solchen Wetterverhältnissen ist man ja froh, wenn überhaupt was fährt.

Ich freue mich über den Schneefall und der Busfahrer schaut noch vorwurfsvoller, während er den Bus durchs derbste Schneegestöber steuert. Den Seitenblick auf mich kann er sich leisten, denn durch die Frontscheibe sieht man eh im Prinzip nichts. Nur weiß, selten rot, das ist dann je nach Höhe Bremslicht oder Ampel. Wir sind im Prinzip im Blindflug.

"Irgendwo hier sollte die Haltestelle sein" sagt der Busfahrer, "ich seh sie nicht. Aber irgendwo hier!" Er hält an der Grenze zum Steilshooper Ghetto an. Einfach mal Blinker rechts und alle raus. Ich trete in den für Hamburger Verhältnisse "Blizzard", stehe direkt bis zum Knöchel in einer Schneewehe und der Wind peitscht mir die Schneeflocken ins Gesicht.

Guter Mann, der Busfahrer, die eigentliche Haltestelle hat er nur um wenige Meter verfehlt und aus dem Blizzard kommen nun die angelaufen, die weiter rein nach Steilshoop wollen. Oder besser: müssen. Da fährt man doch freiwillig nicht hin. Von der Kulisse der Steilhooper Plattenbauten, die sich sonst am Horizont auftürmen und die ich abends und vor allem jn der Vorweihnachtszeit irgendwie mag mit all ihren erleuchteten Fenstern, ist heut nichts zu sehen. Man sieht nur weißgrau und windig. Oder wie ich gar nichts, weil der Schnee die Brillengläser erblinden lässt. Ich strauchele und schliddere vorwärts zum Discounter meines Vertrauens und als ich ihn betrete, schmelzen zwar die Schneeflocken auf den Brillengläsern, dafür beschlagen diese innerhalb von Millisekunden aufgrund der Wärme. Macht's nicht besser.

In dem Raum, wo man die PET-Flaschen abgibt, hat sich, obwohl es dort unfassbar stinkt, einer eingerichtet, Schlafsack, einen Wasserkocher und wenige weitere Habseligkeiten hat er dabei und er liest ein Buch. Ein Werk von Nietzsche. Zerfleddert. "Ecce homo".

Unsere Blicke treffen sich, er in versifften Klamotten mit fettigen Haaren, ich frisch geduscht aus dem Schneesturm kommend, wahrscheinlich bemitleidet er grad mich, so verfroren und durchnässt, wie ich aussehen muss. Noch dazu mit den Augen plinkernd, da ich die beschlagene Brille in der Jackentasche verstaut habe und jetzt mehr so nach Erinnerung vorwärts laufe. Es muss schon lustig aussehen.

Ich kauf mein Zeug ein, Salami, Milch, Tiefkühlzeug und all sowas. "Ob der Großteil der Kundschaft oder die Kassiererinnen hier Nietzsche überhaupt kennt?" frag ich mich, warum auch immer. Und bezweifle es. "Aber der ohne Zuhause, der tagsüber im stinkenden Raum neben der Flaschenabgabe hockt und den alle meiden, einen Bogen um ihn machen, ihre Kinder von ihm wegziehen, "Nein, kommt da mal weg, der Mann ist nicht sauber, der wäscht sich nicht!", DER liest Nietzsche. Und die, die ihn meiden, können Nietzsche eventuell nichtmal buchstabieren. Krank.

l Raus aus dem Laden, mit gesenktem Kopf kämpfe ich mich durch den Schneesturm zur Bushaltestelle und hoffe, daß ich nicht allzu lange warten muss. Niemand bleibt freiwillig länger als nötig in Steilshoop. Nur der Obdachlose geht mir nicht mehr aus dem Kopf.

Wie kommt der durch die Nacht? Fünfzehn Zentimeter Neuschnee, vielleicht sogar mehr, Freiluft-Schlafen ist unmöglich und ob der Mitternachtsbus, der sich im Winter um Obdachlose kümmert, auch hier durchs Ghetto kurvt und nicht vielleicht eher St. Pauli und die Innenstadtbereiche abklappert (was auf jeden Fall schonmal großartig ist!)? Ich weiß es nicht.

Ich drück Nietzsche aus dem Ghetto alle verfügbaren Daumen. Mal sehen, ob er heut wieder dort im Raum sitzt und liest, besser als draußen in der Kälte ist es dort definitiv!

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