Dienstag, 10. September 2013

Wenn einer eine (Bahn-)Reise tut; Bahnhof Leer

Die knüppelvolle Regionalbahn Richtung Norddeich-Mole rattert durch das dörfliche Niedersachsen, Metropolen wie Westerstede-Ocholt und Augustfehn werden passiert und nichts passiert, die Bahn steht nur kurz an den kleinen Bahnhöfen und links neben dem Bahnhofsgebäude legt eine Kuh einen dampfenden Fladen auf die Wiese, während sie wiederkäuend Richtung Bahn äugt.

Erste Heimatgefühle kriechen in mir hoch und ich muss mich kurz schütteln.

"Nächste Haltestelle: Leer Hauptbahnhof. Wir verabschieden alle nun aussteigenden Gäste und wünschen einen angenehmen Aufenthalt!" verkündet der freundliche Zugbegleiter per Durchsage, in Wirklichkeit wird er vor Schadenfreude feixend in seinem Kabuff sitzen und jedem einzelnen, der gleich in Leer die Bahn verlässt, in Gedanken und grinsend eine Tüte Mitleid hinterher senden, sich dabei die Hände reibend, weil er mit seinem Zug fix wieder weg ist aus Leer. Weiter Richtung Küste.

Allein schon, dem Durchreisenden einen angenehmen Aufenthalt zu wünschen...in Leer...das KANN nicht ernstgemeint sein! Das ist böse und gemein, man drückt dem hier Aus-/Umsteigenden quasi die Gräßlichkeit des Ortes, an dem er die nächste Zeit verbringen wird, noch ins Gesicht. Unverhohlen und grinsend. "Angenehmen Aufenthalt in Leer!" ist wie "Viel Spaß bei der Wurzelbehandlung!" oder "Dein Hund wird eingeschläfert? Ach, wird sicher gut!"

Ich bin der festen Überzeugung: Leer, besonders der Hauptbahnhof Leer, ist der schlimmste Ort der Welt!

"Aurich ist schaurig. Aber Leer noch viel mehr!"

Ein Satz, den wohl jeder Norddeutsche schon zumindest einmal in seinem Leben gehört hat, ob jetzt als ironischen Witz, als sturzbesoffen herausgerülpste Halbwahrheit oder als mit mahnemdem Finger vorgetragene Lebensweisheit als kleiner Junge von seinem Opa. Wie bei mir. Wobei er das vermutlich auch nicht todernst meinte, aber es ist hängen geblieben.

Die Regionalbahn spült ihren Inhalt auf den Bahnsteig Nummer vier, das heißt, die paarhundert Menschen müssen jetzt erstmal eine enge Treppe hinunter, das Gepäcklaufband rechts neben der Treppe läuft schneller als der Fußgängerstau hinab kommt und diverse ältere Menschen werden fast von ihrem Gepäck mitgerissen, ein gebrechlicher Herr, optisch so 80, verhindert einen Sturz nur, weil er meine Hand beim Taumeln zu Fassen bekommt und ich ihn instinktiv festhalten kann. Gesehen hatte ich ihn im Gedränge vorher gar nicht. Sein Koffer ballert das Laufband herunter und er schaut sichtlich geschockt. Aber ihm geht es gut, versichert er mir und er kann auch schon wieder scherzen, wie Tarzan an der Liane habe er sich schließlich festgehalten an mir. Ich nicke. Er lacht. Ich auch. Aber eher erleichtert. Nix passiert.

Unten angekommen kommt das "Highlight". Eine uralte Unterführung für Fußgänger, maximal vier Meter breit und drei Meter hoch, stickig, eng, eklig...Love Parade 2010 anyone? Ich weiß nicht, wer sich so einen Scheiß für einen Bahnhof ausgedacht hat, aber man sollte ihn öffentlich teeren und federn! Am Ende des Tunnels wartet erneut eine enge Treppe mit einen seitlich mitlaufenden Gepäckband. Beware.

Nach dem ganzen Stress wünscht Mensch sich ein paar ruhige Minuten. Hinsetzen, was trinken, was essen, eine rauchen. Ich erinnerte mich an meinen in Bremen erworbenen Burger!

Kackbrötchen, Chemiekäse, "Fleisch"patties...YEAH!!

Also suchte ich mir einen geeigneten Sitzplatz.

(Ich fahre seit über zehn Jahren regelmäßig über diesen Bahnhof, die Aussichtslosigkeit meiner Suche war mir bewusst. Die Hoffnung stirbt zuletzt...)

Zuerst draußen auf dem Bahnhofsvorplatz. Da steht ein Brunnen und man kann auf Treppen sitzen.

Auf den Treppen sitzen die ortsansässigen Jugendlichen, trinken PET-Bier, ansonsten haben sie es sich zur Aufgabe gemacht, vorbeilaufende Frauen unterirdischst "anzumachen" und nebenbei den Vorplatz in einen Spuckesee zu verwandeln.

Abgeschreckt taumelte ich, meinen irritierenderweise noch leicht warmen Burger in der Hand haltend, rückwärts, zurück in den Innenraum des Bahnhofsgebäudes. Dort gibt es vier Sitzplätze, naturgemäß sind die bei der Anzahl der Durchreisenden IMMER besetzt...wenn man Glück hat, dann hat sich ein Wohnungsloser dort breit gemacht und pennt...wacht aber auf, während man noch auf seine Bahn wartet, packt sein Hab und Gut und geht. Dann kann man sich problemlos auf die freigewordenen, aber fies ungemütlichen, da aus Metallgeflecht gemachten Plätze setzen, die zumindest aber nicht vor Rotze triefen.

Denn Obdachlose rotzen keine Pfützen auf Fußböden, sowas tun nur Asis.

Im Bahnhofsgebäude gibt es außer einer Unmenge Unmenschen auch noch einen Bäcker/Cafe. Soll gut sein. Hat aber nie auf, wenn ich in Leer am Bahnhof mein Leid friste, was bei jedem Aufenthalt und unabhängig von Tageszeiten oder Reiserichtungen immer mindesten 45 Minuten sind. Gegenüber des Bäcker-Cafes gibt es eine Buchhandlung, die immer geöffnet zu haben scheint, selbst an Feiertagen kann man ein paar Minuten dort totschlagen.

Auf dem Bahnsteig von Gleis eins, von dem auch bald mein Zug ins deprimierende Emsland abfährt...ich freu mich inzwischen darauf, alles ist besser als DAS hier, sitzen und stehen einige obskure Gestalten.

Verwachsene, für ihre aufgeqollenen Körper viel zu junge, in Camouflage und pink "gekleidete" "jugendliche" Mädels Tussen, schwerlich als solche zu erkennen, keine von denen wird älter als 18 gewesen sein...wenn man nicht genau hinschaute, was empfehlenswert war, dann konnte man jede von denen mit einem Panzernashorn, gewandet in Camouflage oder pink, verwechseln. Die Handies dudelten nicht synchronisiert "Stress ohne Grund" vom absolut obergeilen Macker Bushido in die Gegend...und ich glaub, selbst dem wäre das peinlich gewesen. Schwör!

Ich verzog mich mit meinem (inzwischen natürlich komplett erkalteten) Burger wieder zum Vorplatz, hockte mich auf den Rand des Brunnens, der zu einem Drittel mit Müll befüllt war, Zigarettenschachteln und -filter, alte Zeitungen, Verpackungen des unsäglich schlechten Dönerdealers neben dem Bahnhof, den ich eigentlich verschweigen wollte, Bierdosen und - natürlich, mir war ja noch nicht schlecht genug - ein paar Kondome.

Wie zu erwarten war, schmeckte der Burger schlimm, heiß wäre er wohl marginal besser gewesen...ich fand vier Scheiben Jalapenos, die waren gut...der Rest? Kurz habe ich überlegt, meinen angefressenen Burger-Rest dem blondierten Jüngling mit Augenbrauenpiercing frontal ins Gesicht zu rammen, der zwei Meter neben mir seine Gesichtsgrätsche befummelte ...knutschen...rotzen...knutschen...rotzen... bitte BITTE pflanzt euch NIE fort!! Ein frommer Wunsch, haben sie vermutlich eh schon... Ich hab dann lieber Tauben mit dem Burger gefüttert. Solang, bis die beiden "Hübschen" flüchteten. Nicht ohne die Federviecher vorher mit Geschlechtsverkehr zu bedrohen. "Eyh, hau ab oder isch fick disch!" Ich wär um mein Leben gerannt...

Ein Blick auf die Uhr: Es ist bald überstanden. In zehn Minuten kommt meine Bahn. Ich war selten froher, ins Nichts zu fahren!

Auf Gleis eins warte ich mit vielen anderen. Eine Gruppe Endsechziger, quietschvergnügt und bierselig. Vier Jugendliche, ausgestattet mit Spirituosen noch und nöcher. "Wir fahn na Osnabrügg...sum feian! Beim Gumbel!" erklärt mir ein Schwankender und seine ganz niedliche Begleitung rollt mit den Augen. "Der ist jetzt schon dicht, in Osna packen wir den direkt ins Bett! Wenn du n Bier willst, setz dich zu uns!" Ein Angebot, das ich sehr gern annehme. Es gibt einiges weg zu trinken nach diesen knapp 50 Minuten in...

...Leer.

Leer in Ostfriesland.

Zumindest der Bahnhof ist einer der schlimmsten Orte der Welt! Ganz ehrlich!

4 Kommentare:

  1. .. sehr zu empfehlen ist vom "wohlfühlfaktor" her auch der bahnhof büchen. weit und breit NIX. aber einen dunklen eisigen tunnel haben die da auch..

    göttlich geschrieben, vielen vielen dank..

    sonntagserlebnis beim besuchwegbringen hier in der pampa: die regionalbahn spuckte einen "jungen mann mit migrationshintergrund" aus. seinen satz "alda-ich bin hierhergekommen, um deine mudda zu figgn" konnte ich nicht so ganz einordnen, aber nunja...

    lg- die exilhamburgerin

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    1. Danke dir für`s Kompliment!

      Den Bhf Büchen kenne ich nicht (oder hab ihn erfolgreich verdrängt), klingt aber auch äußerst anheimelnd! Wenn ich mich mal wieder gruseln oder aufregen will, dann fahr ich da mal hin ;)

      Hehe, so ein Erlebnis wertet den Sonntag doch direkt auf oder etwa nicht? ;) Vor allem, wenn`s so "aus dem Nichts" kommt. Da fragt ich mich immer: HÄH?!? Vielleicht eine Form von Tourette? Will man`s wissen? Glaube nicht...

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  2. habe mir gestern mal wieder george orwell's 1984 verfilmt gegegeben. die hatten extra büros für neusprech und wörterverknappung. viele hier tun dies mit ihrer dämlichkeit jetzt schon freiwillig und finden das auch noch cool.
    armes deutschland!

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  3. Die Metropolen in Norddeutschland haben ja genauso klangvolle Namen wie die in Hessen, als da heißen Hailer-Meerholz und Haitz-Höchst.

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